Munro und Graham: Stürmische Schotten

Signal Rock, Glencoe

Sechs lange Jahre ist es her, seit ich mein Herz an Schottland verloren habe. Bei meiner ersten Reise hierher haben es mir die ungezähmten Landschaften, die sanften Hügel, die weissen Strände und vor allem die herzlichen Einwohner (zwei- und vierbeinige) angetan. Seit diesem Zeitpunkt hat sich ein Gefühl in mir breitgemacht welches ich gerne als „Schottland-Sehnsucht“ bezeichne. Diese Sehnsucht trieb mich schliesslich dazu, die Wanderschuhe einzupacken und einen Flug nach Edinburgh zu buchen. Ziel dieser Reise war es, endlich mit dem Munro Bagging zu starten und ausserdem mein kleines Stück Land (stolze 11 Quadratfüsse ;-)) im Glen Coe zu besuchen. Bevor ich hier aber weiter erzähle, muss ich wohl klarstellen, dass Munro und Graham nicht etwa die Namen von potentiellen Schwiegersöhnen sind (Sorry Mami), sondern die Bezeichnung von Bergen. 

Munro Bagging ist ein verbreiteter Sport unter den Schotten, welcher das Besteigen von Bergen bezeichnet, welche höher als 914,4 müM sind. So wie die Schweizer 4000-er Berge sammeln, sammeln die Schotten eben Munros. Die Munros haben ihre Bezeichnung von Sir Hugh Munro, welcher in 1891 die erste Liste aller schottischen Berge über 914,4 müM erstellt hat. Im Moment gibt es offiziell 282 solcher Berge, die vom Scottish Mountaineering Club (ähnlich wie der SAC in der CH) anerkannt sind. Grahams hingegen sind so etwas wie die kleinen Brüder der Munros: diese Berge sind nur zwischen 609,6 und 762 müM hoch. Neben diesen beiden Bezeichnungen haben die Schotten natürlich auch Namen für die anderen Berge (Donald oder Marilyn etc.).

Mein Weg hat mich also nach Glen Coe, in das Tal der Tränen, geführt. Hier habe ich mir ein kleines Hüttchen gemietet, in der Hoffnung so viel wie möglich zu Fuss zu erkunden. Das ist in Schottland eher schwierig: die Distanzen sind weit und die Schotten sind ein Volk von Autofahrern. Nichtsdestotrotz lasse ich mich nicht davon abbringen wenigsten einen Tag wandern zu gehen und siehe da, am 15.6. habe ich tatsächlich Glück mit dem Wetter und kann die Berge unsicher machen.

Da dies mein erstes Solo-Wanderabenteuer in Schottland ist, habe ich mir absichtlich eine einfache Tour ausgesucht. Mein Vater pflegt zu sagen, dass ich einen Fensterplatz im Geografieunterricht hatte. Das stimmt tatsächlich und trifft leider auch auf meinen Orientierungssinn zu. Ich schaffe es sogar in den Schweizer Bergen von den klar markierten Wanderwegen abzukommen. In Schottland besteht die Herausforderung nicht darin, dass die Berge wahnsinnig hoch sind, sondern dass die Schotten nichts markieren und bei der Gestaltung der Wanderwege eher den Ansatz verfolgen: wo die Wanderer durchlaufen bildet sich irgendwann schon von selber ein Pfad.


Nun denn, meine Ziele für heute lauten Sgòrr na Cìche (Pap of Glencoe) und Sgòrr Nam Fiannaidh. Der Pap ist mit seinen bescheidenen 742 müM nur ein Graham, gleich nebenan gibt es aber einen Munro zu besteigen, den man nach dem Pap gleich mitnehmen kann. 

Sgòrr na Ciche

Ich mache mich also morgens u. 8.30 Uhr auf den Weg zu meinem ersten Munro. Das Wetter ist, typisch für Schottland, wechselhaft und bewölkt. Bereits am Tag vorher hatte ich den Wegweiser zum Pap (den einzigen auf der ganzen Wanderung) gesehen und wusste somit ungefähr wo durch. Der Weg startet ungefähr 500 Meter nach dem Dorf Glencoe und sticht direkt in eine Weide mit Kühen und Schafen. Die Schafe rennen mit ihren Lämmern davon, die Kühe interessieren sich nicht für mich.

Nach der ersten Steigung überquert der Pfad eine kleine Holzbrücke und traversiert, sanft steigend,  parallel zu der A82, das Tal der Tränen. Diesen Übernamen hat Glen Coe übrigens wegen dem Massaker am Clan MacDonald. Mehr dazu hier (https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_Glencoe)

So könnte die Wanderung noch lange weitergehen, ich weiss aber, dass ich mich im Moment vom Pap entferne, der Weg muss also früher oder später eine 180 Grad Kurve machen. Bis hierhin bin ich positiv überrascht von dem deutlich erkennbaren und wahrscheinlich auch unterhaltenem Wanderweg. Hier hat sich tatsächlich jemand Mühe gegeben. Ein kleines Bächlein muss überquert werden und dann beginnt die erwartete Steigung auch schon. Ich bin froh um meine mitgebrachten Stöcke die das ganze sehr viel angenehmer machen. Der Regen vom Vortag hat seine Spuren hinterlassen und somit ist der Boden nass und die Steine rutschig. Plötzlich öffnet sich aber die Wolkendecke und die Sonne scheint durch. Das ist der erste Sonnenschein seit ich in Edinburgh gelandet bin und der kommt im perfekten Moment. Ich befinde mich bereits ein paar Höhenmeter über dem Tal und geniesse kurz die Aussicht auf die grünen Hügel des Glen Coe.

Aussicht ins Tal der Tränen


Es ist nicht verwunderlich, dass hier Filme wie Harry Potter 3 (Hagrids Hütte) oder James Bond gedreht wurden. Die Landschaft ist bezaubernd und das Wetter ist nicht ganz so übel wie befürchtet. Mit dem Sonnenschein kommen allerdings auch die ersten ‘Midges’: mikroskopisch kleine Mücken die durch die Kleidung stechen und fiese kleine Buckel hinterlassen. Noch während ich diesen Bericht schreibe, jucken meine Beine wegen den fiesen Stichen.

Um den Midges zu entkommen wandere ich weiter auf dem steilen, steinigen Pfad in Richtung Sgòrr na Ciche. Auch hier ist der Wanderweg weiterhin gut sichtbar, sodass die fehlende Beschilderung nicht stört. 

Schottische Wanderwege


Am p470 erreiche ich eine Abzweigung die in Richtung Sgòrr nam Fiannaidh hochgeht. Im Moment ignoriere ich diese noch, da ich erst auf den Pap will. Die wohltuende Sonne hat sich mittlerweile leider wieder hinter den Wolken versteckt und der Nebel wird dichter.

Plötzlich sehe ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung, kann es sein, dass hier Steinböcke rumturnen? Nein, in Schottland gibt es kein Steinwild, dafür aber massenhaft Rotwild. Über mir in der Ferne grasen friedlich mehrere Hirschkühe. Schnell ist die Spiegelreflex aus dem Rucksack gepackt und das Objektiv auf die Tiere gerichtet. In diesem Moment bereue ich es, dass ich nicht das grössere Objektiv meines Bruders mitgenommen habe.

Gut getarnte Hirschkühe

Ich schaue den Tieren noch eine kurze Weile beim grasen zu und gehe dann weiter, nur um kurze Zeit später wieder beeindruckt stehenzubleiben. Vor mir kreuzen vier Hirschkühe den Weg.
Hirschkühe im Nebel

Leider wurde der Nebel nun so dick, dass kein besseres Foto möglich war. Auch den Gipfel kann ich nun nicht mehr sehen aber auch hier sind die Wege noch so gut, dass der Nebel noch nicht gefährlich werden kann. Nach einer weiteren Fotopause mache ich mich fröstelnd auf in Richtung Gipfel. 

Ich befinde mich nun auf einer Ebene, ein Pass so zu sagen. Vor mir sehe ich den Weg zum Sgòrr na Cìche was übersetzt übrigens „Der Nippel des Berges“ bedeutet. Wenn man die Form des Berges so ansieht, dann macht das durchaus Sinn. Der Nebel wird immer dichter, mein Ziel, obwohl so nah, sehe ich nun nicht mehr. Ein Fuss vor den anderen wandere ich weiter auf dem Weg, der nun zunehmend matschiger wird. Meine neuen Wanderschuhe werden dem schottischen Härtetest unterzogen und bestehen: die Füsse bleiben trocken.

Dann plötzlich ist der Spuk vorbei: Der Nebel verschwindet und ich kann mein Ziel wieder sehen. Von hier aus sind es noch ungefähr hundert Höhenmeter bis ich auf dem ersten Gipfel stehe. Gestärkt durch die Tatsache, dass ich mich bis hierhin noch nicht verlaufen habe, steuere ich geradewegs auf den Gipfel zu und komme in zunehmend steiniges Gelände. Ich hatte als Vorbereitung einige Wegbeschreibungen gelesen und ein manchen war die Rede davon, dass man zum Teil ein bisschen kraxeln muss. Was mir hier noch nicht bewusst war, ist dass ich bloss am kraxeln war, weil ich den Weg verloren hatte. Die Felsen werden immer höher und ich muss immer mehr meine Kletterfähigkeiten auspacken um an Höhenmetern zu gewinnen. Langsam schleicht sich der Gedanke ein, dass ich vielleicht doch falsch bin hier. Es ist noch nicht so gefährlich, dass ein Sturz fatale Folgen hätte, wehtun würde es aber trotzdem und ein paar gebrochene Knochen würde ich davon wohl tragen. Lieber also nicht daran denken und weiter klettern. Nach ein paar weiteren Minuten kraxeln sehe ich plötzlich unter mir einen steinigen Pfad: der sieht viel angenehmer aus als das, was ich hier besteige. Es heisst nun also abklettern um wieder auf den Wanderweg zu gelangen. Der Pfad schlängelt sich den Berg hoch und nach ein paar Minuten stehe ich auch schon auf dem Sgòrr na Cìche. 


Aussicht auf Loch Leven vom Sgòrr na Cìche



Der Nebel hat sich zwar verzogen aber dafür weht ein Wind der mich fast umhaut. So mache ich schnell ein paar Fotos, geniesse für einen Moment das Gefühl der Einsamkeit, schicke ein Gipfelselfie in den Familienchat und mache mich auf zum nächsten Gipfel.

Beim Abstieg kommen mir zum ersten mal heute andere Wanderer entgegen. In Jeans und Turnschuhen gekleidet, sehen diese aber mehr aus wie Touristen, die isch verlaufen haben. Auch die Hirschkühe sind weit und breit nirgends mehr zu sehen. Ich hatte wohl Glück, dass ich früh genug aufgebrochen bin.

Flinken Schrittes gehe ich zurück zum Punkt 470 wo sich der Weg teilt und einmal mehr steil nach oben verläuft. Am Fusse der Abzweigung sitzen zwei ältere Wanderer die sich gerade für den Aufstieg stärken. Auf meine Bemerkung, dass es wahrscheinlich noch so ca. 200 Höhenmeter bis zum nächsten Gipfel sind, lacht der ältere Herr und meint, dass es bestimmt noch 500 sind. Meine Beine sind zum Glück noch ziemlich frisch und ich freue mich auf die nächsten Höhenmeter. 

Auch hier verläuft der Weg wieder geradeaus hoch und ist deutlich erkennbar. Das positive an den schottischen Wanderwegen ist, dass man keinen überflüssigen Meter läuft. Es gibt keine Routen die sich den Berg hochschlängeln, damit die Waden der Wanderer weniger brennen. Oh nein, hier geht es schnurstracks den Berg hoch ohne Firlefanz, ohne Gnade für die Wandererwaden. Auch hier bin ich wieder froh um meine Wanderstöcke.

Meiner Natur getreu, nehme ich wieder einen kleinen Umweg und finde mich abseits des Weges. Hier ist es aber bloss ein Geröllfeld und mit Hilfe der online Karte komme ich schnell wieder auf den "offiziellen" Weg. Mit ein bisschen Ausdauer und Kraft ist diese Wanderung kein Problem. Es gibt keine technischen Stellen wo Vorsicht geboten wäre. 

Nach einer Stunde ist der Aufstieg geschafft und ich nähere mich einem grossen Steinhaufen (oder Cairn in Scots). 

Cairn auf dem Sgòrr Nam Fiannaidh



Ein älterer, grauer Mann hüpft raus und winkt mich in den Windschatten. "Welcome," ruft er aus und fragt mich direkt wo denn mein Ehemann sei. Lachend erwidere ich, dass es keinen Ehemann gibt. Meine Laune ist zu gut um so einem Fauxpas grosse Beachtung zu schenken. Der alte Mann realisiert wahrscheinlich nicht, wie unangebracht diese Bemerkung ist. Wir plaudern noch ein bisschen über unsere jeweiligen Routen und welche Berge die nächsten Ziele sind und dann verabschiedet er sich auch schon.


Ich bleibe noch kurz oben um ein paar Fotos zu schiessen und einen Apfel zu mampfen, bevor es auch mir zu ungemütlich wird. Der Wind hat mittlerweile isländische Ausmasse angenommen und ich muss aufpassen, dass ich nicht umgeweht werde.
Noch einmal drehe ich mich zum Ben Nevis um um zu schauen, ob er aus den Wolken ragt. Leider sehe ich bloss einen grossen schwarzen Schatten, wo der höchste Berg von Grossbritannien steht.
Ben Nevis versteckt sich in den Wolken

Auf gleichem Weg geht es für mich jetzt wieder runter nach Glencoe und nach 14.24 km, 1200 Höhenmeter und 5:47 Stunden gelange ich glücklich und erschöpft zu meinem kleinen Bothy beim Signal Rock.







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